Russlanddeutsche und ihre Positionierung innerhalb der Flüchtlingsdebatte

Ein Leipziger Kunststudent, der mit mir und einer Jugendprojektgruppe Kaliningrad besucht hat, verarbeitet seine Eindrücke in einem Kurzfilm und beschreibt: „Wenn Sie in einem fremden Land sind und die Sprache nicht beherrschen: Schauen Sie aufmerksamer. Hören Sie aufmerksamer...“ Ich war angetan von dieser demütigen Aussage. Denn auch wir Russlanddeutsche waren einmal Fremde in Deutschland. Wir kamen, wir sahen und wir verstanden. Wir wussten uns einzubringen. 

Mit der Einwanderungswelle der Flüchtlinge sind wir aufs Neue gefordert, uns innerhalb dieser Gesellschaft, in der wir uns mittlerweile heimisch fühlen, zu positionieren und über unsere eigene Geschichte und unsere Werte nachzudenken. Meine Großmutter und Vater meinen: So viel Zuwendung wie die Flüchtlinge haben wir bei unserer Ankunft in Deutschland nicht erfahren. Vielleicht keimt in einem oder anderen der Gedanke auf: Unsere historische Heimat Deutschland verleugnet sich selbst und ihre eigenen Leute. Viele Fragen entstehen und ich finde es sehr wichtig, differenziert hinzublicken anstatt pauschale und uns voneinander spaltende Bewertungen abzugeben. Für mich, die ich jetzt seit 25 Jahren in Deutschland lebe und mich in mehreren Kulturen beheimatet fühle, folgen daraus zwei grundlegende Fragen:
1) Wenn ich mich nun benachteiligt fühle, vergleiche ich mich dann nicht eigentlich mit der hilfesuchenden Position der Flüchtlinge? Sehe ich mich also nicht als 100-prozentig teilhabendes  und zufriedenes Glied dieser Gesellschaft? Wurden vielleicht meine persönlichen Bedürfnisse innerhalb nicht erfüllt?

2) Habe ich Angst, etwas Materielles und Kulturelles zu verlieren durch das Fremde?
Viele von uns fühlen sich in der Thematik tatsächlich ungefragt und überrannt. Kaum haben wir uns hier eingewöhnt, schon kommt eine neue Konfrontation mit dem Fremden auf uns zu. Und der Aufruf zum pluralistischen Miteinander heißt: gemeinsam anpacken und nicht nebeneinander, sondern miteinander existieren und leben! Wir müssen nun „teilen“ mit Menschen aus einer Kultur, die uns fremd erscheint und Ängste in uns hervorruft. Wie könnte man diese Ängste benennen?

Vielleicht haben sogar wir Russlanddeutsche unbewusst dazu beigetragen, dass Deutschland bunter geworden ist und sich gegenüber einer anderen Kultur so überraschend weit öffnet? Mittlerweile zählen wir uns Russlanddeutsche innerhalb Deutschlands 4,5 Millionen! Und wir fragen uns, wie unsere eigene Identität innerhalb der Gesellschaft aussehen könnte. Was macht unsere gemeinsame Identität neben dem Trauma, das insbesondere die älteren Generationen geprägt hat, aus? Sind wir angekommen? Deutschland ist durch uns Russlanddeutsche „wärmer“ geworden. Wir können stolz auf zahlreiche Erfolgsstories der Integration sein. Wie könnte also unsere Haltung in der Flüchtlingsdebatte aussehen? Könnte man uns nun mit der Erfahrung von Heimatverlust und Immigration als Brückenbauer verstehen? Ein hehres Ziel! Aber auch umso dringlicher!

Ich möchte Ihnen von Muhammad erzählen. Er ist ein Flüchtling aus Syrien und engagiert sich aktiv im russlanddeutschen Integrationshaus Lyra e.V. in Berlin. Er hat in Odessa Chirurgie studiert und kommuniziert hier in der russischen Sprache mit seinen russlanddeutschen Kollegen im Verband. Ich horche auf und möchte mit ihm ins Gespräch kommen. Muhammad, der aus der Fremde kommt, spricht meine Muttersprache! Ich beobachte ein in mir wachsendes Gefühl von Verbindung. Diese kulturelle Verzweigung bringt mich zum Schmunzeln. Er liebt außerdem die russische Kultur. Doch wie steht es um seine Haltung gegenüber Frauen? Ich möchte meine Vorurteile aus dem Weg räumen und entschließe mich, ihn und einen weiteren Flüchtling aus dem Irak über ihre Einstellung zu Frauen zu fragen. Sie wissen um die Skepsis von westlicher Seite gegenüber der islamischen Kultur und so bemühten sie sich merklich eine diplomatische Aussage zu treffen. Ich wurde nicht ausführlich aufgeklärt über ihre Einstellung, doch erfahre ich von Muhammad im Allgemeinen einen sehr respektvollen und eher aufschauenden Umgang. Bei all den skeptischen Fragen fällt der Spot auf mich zurück und unseren eigenen westlichen Umgang - beispielsweise mit Sexualität. An die sexistisch-plakative Werbung, den Sex-Tourismus in Thailand sowie die offenen und verdeckten patriarchalischen Strukturen innerhalb unserer Gesellschaft sind wir schließlich gewöhnt. Hier fühlt sich natürlich nicht jeder angesprochen, doch im Umkehrschluss sollten wir auch den „Anderen“ zugestehen, nicht zwangsläufig unseren Vorurteilen zu entsprechen. Wir sollten uns folglich fragen, was in uns die Angst vor Flüchtlingen auslöst. Sind sie tatsächlich verantwortlich für die Folgen unserer Ängste? Was macht uns Angst vor einer Dynamik in der kulturellen Veränderung?  Warum haben wir nicht die gleichen Verlustängste, wenn Milliarden Euro in eine Bankenrettung fließen oder nehmen finanzielle Belastungen an anderer Stelle leichter hin? Oder: Erfahren wir nicht auch an anderer Stelle einen Kulturverlust, den wir nicht einmal ansatzweise infrage stellen?

Können wir nicht auch einen Mehrwert aus der neuen Situation für unsere Gesellschaft ziehen? Können wir die Teilhabe an politischen Entscheidungen nicht selbst positiv beeinflussen? In unserer Hand liegt vielleicht mehr Macht als wir uns das manchmal zutrauen.

Eine Erinnerung an unser Grundgesetz ist meiner Meinung nach eine sehr hilfreiche Orientierung für ein friedliches Miteinander:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Es darf also niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder wegen seiner Behinderung benachteiligt oder bevorzugt werden.

Und das gilt für alle, die sich in Deutschland aufhalten.

Helena Goldt (Kolb)

 

 

Zur Person:

 Helena Goldt wurde als eine von drei Töchtern in Kasachstan geboren, kam als sechsjährige mit ihrer Familie nach Deutschland und absolvierte ein Diplomstudium als klassische Sängerin in Augsburg und Nürnberg. Sie ist Stipendiatin der Sommerakademie Concerto 21 der Alfred Toepfer Stiftung. Als freies Mitglied des Vocalconsort Berlin war sie in der Opernproduktion “Moses und Aaron” von Arnold Schönberg an der Komischen Oper und an den Aufnahmen des Komponisten Sven Helbig für die Deutsche Grammophon unter dem Dirigat von Kristjan Järvi beteiligt. Zahlreiche Engagements brachten sie als Solistin in genreübergreifenden Konzerten u.a. in den Bundesrat, das Radialsystem V Berlin sowie auf internationale Bühnen nach Kasachstan, Indien, Kurdistan und Russland. Sie trat in TV- und Radiobeiträgen (BR, Kulturradio rbb, Funkhaus Europa, …) auf und wird 2016 in Kaliningrad mit dem dort ansässigen Sinfonieorchester als Solistin ein Gastspiel geben. 

 


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