Ausschnitte aus der Erzählung „2077“ von Max Schatz (Überarbeitete Fassung)

Satirisch-futuristische Erzählung, die den ersten Arbeitstag des Protagonisten nach langer Arbeitslosigkeit beschreibt.

 

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Ich bin 34 Jahre alt. Man braucht keinen langen Atem, um mein bisheriges Leben darzulegen:

Ich wurde als Einzelkind in einer gewöhnlichen Großstadtfamilie geboren. Obwohl meine Eltern natürlich geringes Einkommen hatten, besaßen wir in unserer Wohnung alles, was man in unserer perfekten, modernen Zeit haben muss. So begann ich mit drei Jahren meine ganze Freizeit am Computer zu verbringen. Gelegentlich kam ein wenig Fernsehen dazwischen. Ich spielte vor allem Computerspiele, schaute Kurzfilme an und surfte im Internet. Sehr selten las ich auch ein digitales Buch, aber da darin nur wenige Bilder zu finden waren, hörte ich immer schnell damit auf.

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In der Schule dann hatte ich zu niemandem Kontakt. Das lag zum einen an meinem introvertierten Charakter, zum anderen daran, dass der Großteil meiner Klassenkameraden ein ähnlich zurückhaltendes, in sich gekehrtes Wesen hatte. Außerdem war ich nie länger als ein Jahr an einer Schule, weil unser Schulsystem bis zu 15 Stufen von der Grundschule bis zum Gymnasium vorsieht. So bleibt mir die Erinnerung an diesen Lebensabschnitt als an eine Zeit sich ständig wechselnder Orte, Schulen, Klassen, Personen. Keine Chance, dabei einen mehr oder weniger langfristigen Kommunikationspartner unter den Mitschülern zu finden. Wenigstens einen einzigen.

Diese Kommunikationspartner tummelten sich zu Tausenden in zahllosen Online-Communities, wo jeder automatisch seine Introvertiertheit abstreifte und zum cool-genialen Philosophen wurde. Auch ich war so einer, klar. Eine bekannte Figur, eine Stammtischperson, routinierter Status-Pos(t)er in den virtuellen Cliquen. Und in der Realität, in der Schule? Ich redete weder im Unterricht noch in den Pausen. Fast alle verhielten sich genauso. Der Rest unterhielt sich manchmal im Zentrum des Schulhofs in Wortfetzen.

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Diese ganzen Jahre existierten für mich nur Noten, Punkte, Durchschnitte etc. und letztlich nur ein Ziel: Abitur. Doch ich konnte die Schule nicht abschließen. Kurz vorm Abschluss bekam ich etwas, das seit gut 100 Jahren als Burnout-Syndrom bekannt ist. Medizinisch gesehen war ich nicht die Spur krank, doch alles, was zeitlebens verspannt gewesen war, tat nun weh – alles im oberen Drittel des Körpers: Schultern, Nacken, Hals, Gesicht, Unterkiefer, Nasennebenhöhlen, Zahnfleisch, Mandeln, Kehlkopf, Zunge … Zu dem Ganzen zähle ich nicht die Rückenschmerzen, da sie mittlerweile zum Normalzustand jeden Bürgers gehören, sowie Augenprobleme und Ohrgeräusche, die für junge Menschen meines Typus ebenfalls als normal gelten. Schon damals hatte ich eine Kurzsichtigkeit von minus 22 Dioptrien, trug Kontaktlinsen und Brille zusammen.

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Im Zuge der bisher größten Sanierungsaktion des Informationszeitalters in den Dreißigerjahren wurden Unmengen von Daten komprimiert, verpackt und verschlüsselt, um Speicherplatz zu sparen (eins der wichtigsten Ziele in der Informatik). Dem allgemeinen Komprimierungswahn fielen auch Personennamen zum Opfer. Eltern gaben ihren Kindern von nun an Namen mit höchstens drei Buchstaben, zum Beispiel FBI, CIA, X usw. Stockkonservative Eltern gaben ihren Kindern Namen auf die altmodische Weise, die jedoch zwangsweise zu Initialen abgekürzt wurden. Zur formalen Unterscheidung wurden solchen Namen Unterstriche hinzugefügt, zum Beispiel A_H, J_W_S usw.

Mein Name lautet M_S_17082043. Der meiner Freundin RAM_03012046. Die Zahl hinter den Initialen bedeutet das Geburtsdatum. Es gibt noch eine Erweiterung, welche die nationale Herkunft einer Person beschreibt. Komplett heiße ich also M_S_17082043.trc. Die drei Buchstaben hinter dem Punkt stehen für türkisch, russisch und chinesisch. Das sind meine drei hauptsächlichen Nationalitäten. Genauer unterteilt, bin ich nur zu 3/16 Türke, 3/16 Russe, 3/16 Chinese, ferner Madagasse, Kambodschaner, Ire zu je 2/16 und zu 1/16 Deutscher.

Durch diese Namensdefinition wurde auch das Personalausweissystem vereinfacht, denn nun hatte man alles Nötige über eine Person in einer einzigen Zeile. Solche Dinge wie Augenfarbe waren irrelevant geworden, denn es gibt schon seit über 60 Jahren Methoden, die Augenfarbe beliebig zu verändern mittels Laserbehandlung der Pigmente in der Iris. Täglich sieht man Leute auf der Straße mit rosa, violetten, leuchtend gelben etc. Augen (nichtsdestotrotz kann die Medizin eine höhere Kurzsichtigkeit immer noch nicht ohne die Gefahr irreparabler Schäden operativ beheben).

Auch in anderen Bereichen hat man die frühere Bürokratie menschenfreundlich abgebaut. So ist beispielsweise die Angabe zum Familienstand in Ämtern oder auf Lebensläufen von Bewerbungen für viele überflüssig geworden, da es heutzutage Heterosexuellen gesetzlich verboten ist zu heiraten. Wer sich nicht vor negativen Seiten des Ehelebens, welche so überbordend sind, dass sie die Allgemeinheit und später eben die Regierung zu diesem Gesetz bewogen haben, scheut, kann trotzdem eine Hetero-Ehe eingehen, muss aber dazu extra einen Antrag beim Gangesamt stellen, mit siebenjähriger Bearbeitungszeit rechnen und natürlich eine Geldstrafe zahlen plus eine Heiratssteuer entrichten …

Die Namen sind allesamt in der globalen Datenbank des Bevölkerungsministeriums registriert. Zur Identifikation bekommt jedes Individuum zu seinem 18. Geburtstag einen Chip mit seinem elektronisch gespeicherten Namen – den Pass also – in sein Steißbein implantiert. Die Operation kostet mit allem Drum und Dran 6000 Euro.

 

 

 

Autorenvita von Max Schatz: 

Geboren am 18.07.1981 in Tscheljabinsk (Russland), kam er 1992 mit elf Jahren nach Deutschland. Nach Fachhochschulreife studierte er von 2003 bis 2007 Elektro- und Informationstechnik. In einer persönlichen Krise brach er das Studium ab und ließ sich nach diversen Jobs zum Facharbeiter Elektro/Metall umschulen.

Er ist Autor von vier Büchern – zwei Romanen und zwei Gedichtbänden.

Weitere Veröffentlichungen in jährlichen Almanachen vom „Literaturkreis deutscher Autoren aus Russland e.V.“, Sammelbänden und Anthologien. 2013 Teilnahme am Wettbewerb des Almanachs des Literaturkreises mit Sieg in der Kategorie „Autor unter 35“.

 

Webseite des Autors: www.schachmax.jimdo.de

 


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